Susannah Heschels Sachbuch “Jüdischer Islam”
Ein jüdischer Orientalismus?
In ihrem Buch fragt die Judaistin Susannah Heschel nach der Rolle des Islams in der Herausbildung einer jüdischen Identität und will dem wissenschaftlichen Erbe jüdisch-deutscher Islamwissenschaftler des 19. und 20.Jahrhunderts Respekt zollen. Doch die romantische Erzählung eines etwas anderen Orientalismus hat auch ihre Tücken. Von Ozan Keskinkılıç
Susannah Heschels Sachbuch “Jüdischer Islam”
“Inmitten tausender Andächtiger rieb ich meine Stirn am Boden der Moschee. Ich war nie im Leben andächtiger, wahrhafter andächtig als an diesem erhabenen Freitag”, notiert Ignaz Goldziher (1850-1921) nach einem Besuch eines Kairoer Freitagsgebets in sein Tagebuch. Für Susannah Heschel ist Goldziher mehr als einer der bedeutendsten Islamforscher Europas. Er steht in einer Reihe mit anderen jüdisch-deutschen Wissenschaftlern des 19. und 20. Jahrhunderts, die ein geschwisterliches Band zwischen ihrer Religion und dem Islam mit Neugier und Faszination knüpften. In “Jüdischer Islam” lenkt die Judaistin den Blick auf eine jüdisch-islamische Symbiose, die das Bild der Moderne abseits der christlichen Weltdeutung neuzugestalten versucht.
Am Anfang dieser beeindruckenden Geschichte steht Abraham Geiger (1810-1874). In seiner Schrift Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? (1833) machte der Vordenker des Reformjudentums erstmals auf Parallelen zwischen Judentum und Islam aufmerksam. Geiger stieß auf Sätze aus der Mischna oder dem Midrasch im Koran. Die Ähnlichkeiten zwischen den religiösen Schriften und Lehren zogen ihn in den Bann. “Die Entstehung des Islam enthüllt uns ein Stück jüdischer Geschichte, das ohne denselben uns ganz und gar verborgen geblieben wäre” (34), schrieb der bekannte Rabbiner.
Ikone der modernen Islamwissenschaft: Für Susannah Heschel ist der ungarische Orientalist Ignaz Goldziher (1850-1921) mehr als einer der bedeutendsten Islamforscher Europas. Er steht in einer Reihe mit anderen jüdisch-deutschen Wissenschaftlern des 19. und 20.Jahrhunderts, die ein geschwisterliches Band zwischen ihrer Religion und dem Islam mit Neugier und Faszination knüpften.
Doch Geiger war keine Ausnahme, wie Heschel in ihrer kompakten Biographiesammlung deutlich macht. Shlomo Dov Goitein (1900-1985), Arabist und Orientalist, ging gar soweit, den Islam als “Judentum in arabischer Form” (52) zu bezeichnen.
Wie er nutzten auch andere den Islam als eine Art Schablone, um die eigene Religion aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Heschel zeigt, wie jüdische Denker und Wissenschaftler, indem sie sich mit dem Islam als eine mit dem Judentum in seinen streng monotheistischen Lehren und bildlosen Traditionen vergleichbare Religion annäherten, gleichzeitig die Polemik gegen das Christentum und seine Dreifaltigkeitslehre auf die Spitze treiben konnten.
Faszination Islam
Einige konvertierten gar zum Islam. Darunter etwa der bekannte Journalist und Autor Leopold Weiss (1900-1992), auch bekannt als Muhammad Asad. Oder auch der Philosoph und Schriftsteller Hugo “Hamid” Marcus (1880-1966), der 1938 nach Sachsenhausen deportiert wurde. Muhammad Abdullah, Imam der Wilmersdorfer Moschee, setzte sich für seine Freilassung ein und unterstützte ihn in der Flucht Richtung Schweiz.
Ob Konversion oder Wissenschaft, deutsche Juden waren vom Islam fasziniert, so Heschels Schlussfolgerung. Die Vereinnahmung des Islams sei zugleich Spiegelbild einer jüdischen Selbstverortung in all ihren Ambivalenzen gewesen. Heschel vermutet, dass die jüdische Islamforschung den Dualismus zwischen Europa und ‘Orient’ durchbrach: “Sie gehörten zum kolonisierten Anderen und hatten zugleich Anteil am europäischen Imperialismus.” (95)
Deshalb zögert die Judaistin nicht, auch negative Effekte eines Blickes zu benennen, der dem Islam eine Eigenständigkeit absprach und zum Archiv der eigenen Geschichte umdefinierte. Ausdrücklich warnt sie davor, negative Bilder zu verschweigen, denn nicht alle bewerteten den Islam positiv. Heinrich Graetz (1817-1891) zum Beispiel sah im Islam einen weiteren großen Feind der Juden. Und Salomon Formstecher (1808-1889) hielt den Islam für despotisch. Auch Eugen Mittwoch (1876-1942), Professor am Seminar für Orientalische Sprachen und Direktor der Nachrichtenstelle für den Orient ist für Heschel “ein Musterbeispiel eines jüdischen Gelehrten, der einerseits die jüdischen Ursprünge des Islam hervorhob und sich andererseits in den Dienst der deutschen Kolonialinteressen stellt” (73).
Der ‘Orient’ als Projektionsfläche von Fantasie und Begierde
Nichtsdestotrotz treten diese Aspekte insgesamt in den Schatten einer überwiegend romantischen Geschichtsschreibung, die in manchen Fällen apologetisch wirkt. Der Hinweis auf “die vielschichtigen Motivationen und Ziele der Orientalisten” (101) relativiert den Dominanzcharakter eines weitreichenden Phänomens, das Edward W. Said, Mitbegründer der Postkolonialen Theorie, als Orientalismus bezeichnete. In diesem fließen Bilder der Brutalität und Primitivität, der Exotik und Unzulänglichkeit ineinander und produzieren Hierarchien.
Wenn Heschel schreibt, dass “jüdische Gelehrte ihre Wissenschaft niemals als einen ‘entschiedenen Angriff’ auf den Koran und den islamischen Glauben” (101) sahen, vereinfacht sie komplizierte Zusammenhänge zum Zweck eines durchweg positiven Narrativs. Problematisch wird es gerade dann, wenn Heschel beklagt, dass “keine vergleichbare muslimische Verortung gegenüber dem Judentum erfolgte” (103).
Ein künstlicher Dualismus?
Die These ist gewagt: Zum einen verpasst sie, jüdische Bezüge in muslimischen Schriften und Überlieferungen auch als Beweis einer muslimischen Verortung zu verstehen. Zum anderen wird sie der gelebten muslimischen Vielfalt in ihren Beziehungen zu anderen Gruppen in all ihren Alltäglichkeiten, auch jenseits des Wissenschaftskanons, nicht gerecht. Eine solche Annahme kann zu einem neuen, künstlichen Dualismus verleiten: hier Respekt und Faszination am Islam unter Juden, dort aber nur Desinteresse am Judentum unter Muslimen.
Zudem übersieht das Buch die spezielle Rolle arabischer Juden, auch als Mizrachim und Sephardim bekannt, inmitten dieser Konstellation. Die Autorin erwähnt zwar kurz, dass Geigers Meinung nach arabische Juden nicht gerade gebildet waren (18), doch bleibt die vermeintliche Tatsachenbekundung unkommentiert. Heschel versäumt es mehrfach, das orientalistische Wissen über den imperialen Blick auf und die Diskriminierung von arabischen Juden durch aschkenasische kritisch zu reflektieren.
Auch in diesen Zeugnissen erschließt sich der ‘Orient’ als Projektionsfläche von Fantasie und Begierde, von Ungleichheit und Macht. Heschels “Jüdischer Islam” ist Teil einer facettenreichen Erzählung, in der Jüdischsein, Muslimischsein, Europäischsein und Arabischsein keine natürlichen Gegensätze sind, sondern auf das Tiefste miteinander verwoben. Die Figur des arabischen Juden und die in seinem Zeichen stehenden Aushandlungen von Selbstbestimmung und Identität verdienen, wie Georges Khalil in seinem wunderbaren Nachwort zum Buch andeutet, deshalb eine umso größere Aufmerksamkeit.
Ozan Keskinkılıç
© Qantara.de 2019
Susannah Heschel: “Jüdischer Islam: Islam und jüdisch-deutsche Selbstbestimmung”, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018,154 Seiten, ISBN 978-3-95757-341-4